- Friedensnobelpreis 1968: René-Samuel Cassin
- Friedensnobelpreis 1968: René-Samuel CassinDer französische Rechtswissenschaftler wurde vor allem für seine großen Verdienste als maßgeblicher Verfasser der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« ausgezeichnet.René-Samuel Cassin, * Bayonne 5. 10. 1887, ✝ Paris 20. 2. 1976; Jurist und Diplomat, 1914 Promotion, 1920 Professor für Internationales Recht, 1921-38 französischer Delegierter beim Völkerbund, 1940-44 Mitglied der französischen Exilregierung, 1945 Mitbegründer der UNESCO, 1946-58 Vertreter Frankreichs in der UNO, 1965-68 Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.Würdigung der preisgekrönten LeistungDie Vollversammlung der Vereinten Nationen hat seit 1945 zahlreiche Resolutionen verabschiedet. Eine der wichtigsten ist die UNO-Resolution 217 A(II), die den offiziellen Namen »The Universal Declaration of the Human Rights« trägt und am 10. Dezember 1948 während einer Sitzung in Paris angenommen wurde. Diese »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« gilt als eine Art Grundgesetz der Menschheit, denn sie verkündet in 30 Artikeln die persönlichen, zivilen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, die jedem Menschen unabhängig von seiner Stellung in Staat, Gesellschaft, Familie, Beruf, Religion und Kultur zustehen. Dazu gehören unter anderen das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person, das Recht auf Gedanken-, Gewissens-, Religions-, Meinungs- und Ausdrucksfreiheit, das aktive und passive Wahlrecht sowie das Recht auf soziale Sicherheit, Arbeit und Bildung. Diese fundamentalen Rechte des Einzelnen dürfen durch Gesetze und Verordnungen nur dann eingeschränkt werden, wenn sie die Rechte und Freiheiten anderer verletzen oder mit der Moral, der öffentlichen Ordnung und den übergeordneten Interessen einer Gemeinschaft nicht zu vereinbaren sind.In der Präambel der Deklaration wird auf die »Missachtung der Menschenrechte«, die »Tyrannei und Unterdrückung«, die »Akte der Barbarei« (vor allem während des Zweiten Weltkriegs) hingewiesen, die die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen schon kurz nach der Gründung der Organisation dazu veranlassten, eine Kommission mit der Formulierung der grundlegenden Menschenrechte zu beauftragen. Dieser Kommission gehörte neben anderen Rechtsexperten aus mehreren Ländern René Cassin als Vizepräsident an. Den Vorsitz führte Anna Eleanor Roosevelt, Witwe des 1945 verstorbenen US-Präsidenten Franklin Delanoe Roosevelt. Die Aufgabe, die man dem Gremium gestellt hatte, war äußerst schwierig, schließlich sollten doch die formulierten Grundrechte weltweit für alle Menschen unabhängig von deren politischer Überzeugung, Kultur, Religion und wirtschaftlicher Situation gültig sein. Wenn sich die Vertreter der Mitgliedsstaaten dennoch am 10. Dezember 1948 nach langen Beratungen und Verhandlungen auf eine Erklärung einigen konnten, dann war dies in erster Linie ein Verdienst René Cassins. Er vermittelte geschickt zwischen den Interessen verschiedener Staaten und verstand es zudem, die Rechte, auf die man sich geeinigt hatte, äußerst präzise in Worte zu fassen.Ein Leben für die Rechte der MenschheitIn der Biografie vieler Friedensnobelpreisträger und -trägerinnen gibt es ein bestimmtes entscheidendes Ereignis, das ihren weiteren Lebensweg geprägt und sie zu Kämpfern für den Frieden und die Rechte anderer gemacht hat. So auch bei René Cassin. Vermutlich hätte Cassin, Spross einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie, eine glänzende Karriere als Anwalt in Paris oder in der französischen Provinz durchlaufen, wenn er nicht im Ersten Weltkrieg so schwer verwundet worden wäre, dass er bis an sein Lebensende behindert blieb und oft heftige Schmerzen zu erleiden hatte. So konnte er gewissermaßen am eigenen Leibe mitfühlen, wie es hunderttausenden anderer Kriegsopfer erging. Nach dem Ende des Kriegs setzte er sich daher neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeit an den Universitäten von Lille und Paris mit aller Kraft für die Rechte von behinderten Kriegsveteranen, von Waisen und Witwen ein, veranstaltete Treffen von Veteranen aus den einst verfeindeten Ländern und nahm nicht zuletzt bis in die 1930er-Jahre hinein als französischer Delegierter an den Abrüstungskonferenzen des Völkerbunds teil.Anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises am 10. Dezember 1968 wurde René Cassin als ein Mensch gewürdigt, der bei der Lösung von Problemen irgendwo zwischen Ideal und Realität, zwischen Optimismus und Pessimismus einen gangbaren Weg sucht. Man hat ihn auch als »Internationalisten« bezeichnet, und in der Tat war der Preisträger jahrzehntelang in führenden Positionen auf internationaler Ebene tätig, blieb dabei jedoch ein national gesinnter Franzose, den es zum Beispiel sehr erboste, dass seine Muttersprache von Anna Eleanor Roosevelt aus der UN-Kommission verbannt wurde. Eine Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern kam für René Cassin im Zweiten Weltkrieg folglich auch nicht infrage; als einer der Ersten verließ er im Juni 1940 sein besetztes Land und schloss sich in London der Exilregierung unter der Führung von Charles de Gaulle an. Zu seinen Aufgabenbereichen gehörte dort unter anderem das Bildungswesen, ein Bereich, der Cassin zeitlebens interessierte. So verwundert es auch nicht, dass der Friedensnobelpreisträger von 1968 zu den Mitbegründern der UNESCO, der UN-Sonderorganisation für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation gehörte.Verkündung und VerwirklichungDie Liste der Ämter, die René Cassin im Lauf seines Lebens innehatte, ist lang, und mit Ehrungen wurde er überhäuft. Seine führende Rolle bei der Abfassung der Menschenrechtserklärung wird heute allerdings von manchen Wissenschaftlern infrage gestellt, etwa von dem kanadischen Juristen John Hobbins. Für ihn trägt die Deklaration eindeutig die Handschrift seines Landsmanns John Peters Humphrey (1905-95), der seinerzeit der UN-Kommission angehörte und der von ihm als wahrer Architekt der »Magna Charta der Menschheit« angesehen wird.Schwerwiegender als derartige Zweifel an der Urheberschaft ist die breite Kluft, die noch immer zwischen den zugesagten Grundrechten und dem Alltagsleben in vielen, vielleicht den meisten Ländern der Erde klafft. Verletzungen fundamentaler Rechte sind bis heute an der Tagesordnung. Menschen werden gefoltert, indigene Völker und andere Minderheiten unterdrückt, von der in Artikel 16 geforderten Gleichbehandlung der Geschlechter kann keine Rede sein, tausende werden Jahr für Jahr willkürlich festgenommen und ohne Urteil in Haft gehalten. Die Opfer von Menschenrechtsverletzungen haben in vielen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas kaum eine faire Chance, ihre Rechte einzuklagen. Hilfsangebote von Politikern westlicher Staaten entpuppen sich meist als Lippenbekenntnisse, denn im Zweifelsfall werden die Menschenrechte in der Regel wirtschaftlichen und politischen Interessen geopfert. René Cassin beurteilte die Wirkung der Menschenrechtsdeklaration deshalb auch sehr nüchtern: »Die Deklaration hat für uns ein Ideal geschaffen und die Leitlinien für unser Handeln vorgezeichnet. Doch schon ein kurzer Blick auf die [...] Realität genügt, um uns zu zeigen, wie weit wir noch von diesem Ideal entfernt sind.«P. Göbel
Universal-Lexikon. 2012.